Viele Menschen fühlen sich aktuell in ihrer gewohnten Lebensweise bedroht: Heißer Krieg in der Ukraine und sich abzeichnende Instabilität der bisherigen USA-dominierten Weltordnung, Inflation und zunehmender Druck auf den Sozialstaat, Klimakrise und die ambivalente politische Reaktion darauf, Unsicherheit angesichts von Klientelpolitik, teils lähmende Zukunftsangst und daraus folgendes stoisches Beharren auf dem Status Quo einschließlich verbreiteter Wut auf Aktionen zivilen Ungehorsams, wachsende Ungleichheit weltweit wie auch national, Probleme im Zusammenhang mit Migration, Ungerechtigkeit bezüglich der Lebenswirklichkeiten zukünftiger Generationen, …
Das ist sicher nur eine kleine Anzahl von empfundenen Bedrohungen, die jeder für sich beliebig fortsetzen könnte und sich in oftmals erst als Reaktion auf andere, tieferliegende Krisen entwickelt haben. Nun nimmt jeder Mensch die einzelnen Bedrohungen ganz individuell wahr und wichtet sie damit auch ganz individuell. Eine Frage wäre damit an dieser Stelle, ob es rationale, wissenschaftlich begründbare Kriterien gibt, die es gestatten, den Grad der Bedrohung, die Dringlichkeit der Bewältigung der jeweiligen Krise festzustellen.
Für unsere biophysikalischen Lebensgrundlagen gibt es einen solchen Ansatz, um deren Zustand und absehbare Entwicklung zu bewerten. Er wurde 2009 von J. Rockström und anderen vom Stockholm Resilience Center entwickelt: Das Konzept der planetaren Grenzen. Auch im Rahmen der Zukunftswerkstatt Jena haben wir uns, ausgehend von unserer Auseinandersetzung mit der Klimakrise bereits 2015 mit diesem Ansatz befasst, der weit über die Problematik der Klimakrise hinausgeht. Aus dieser Zeit stammt auch ein Poster, welches für den Jenaer Umwelttag 2015 erstellt wurde und diese Zusammenhänge darstellt.
Ausgangspunkt des Konzepts der planetaren Grenzen war die Erkenntnis, dass der „anthropogene Druck auf das Erdsystem ein Maß erreicht hat, dass abrupte, globale Umweltveränderungen“, sogenannte Kipppunkte, nicht mehr ausgeschlossen werden konnten. Identifiziert wurden damals neun problematische Bereiche des Erdsystems. Für sieben dieser Bereiche – den Klimawandel, die Versauerung der Ozeane, die Ozon-Konzentration in der Stratosphäre, die biogeochemischen Kreisläufe von Stickstoff und Phosphor, die globale Wasser-Nutzung, die Änderung der Landnutzung und den zunehmenden Verlust der Biodiversität wurden Grenzen abgeschätzt, bei deren Überschreitung die Gefahr von Kipppunkten drastisch zunimmt. Zwei weitere Bereiche wurden benannt – die chemische Verschmutzung der Umwelt und die Belastung der Atmosphäre mit Aerosolen, für die jedoch damals keine Grenzwerte benannt werden konnten. Die biogeochemischen Kreisläufe von Stickstoff und Phosphor sowie der Verlust der Biodiversität wurden damals bereits als kritisch, also mit einem hohen Risiko für die Überschreitung von Kipppunkten bewertet. Sollten solche Kipppunkte überschritten werden, setzen sich selbst verstärkende Prozesse ein, die nicht mehr gestoppt werden können und zu irreversiblen Ergebnissen führen.
Als Hauptbedrohungen einer sicheren biophysikalischen Lebensgrundlage wurden die Bereiche des Klimawandels und des Verlusts der Biodiversität bewertet. Die Situation im Bereich der Biodiversität ist insofern besonders problematisch, weil der Verlust einer Art endgültig ist und im Nachhinein nicht mehr korrigiert werden kann. Bezüglich des Klimawandels ist vor allem seine „Trägheit“ problematisch – seine Auswirkungen werden, auch ohne die Überschreitung von Kipppunkten viele hundert Jahre spürbar sein. Sollten jedoch Kipppunkte überschritten werden, können die Auswirkungen tausende Jahre andauern und damit die biophysikalischen Lebensgrundlagen, wie sie in den letzten 12.000 Jahren die Grundlage der menschlichen Entwicklung waren, für viele zukünftige Generationen zerstören. Angesichts der immer mehr spürbaren Auswirkungen, beispielsweise der Klimakrise zeigt sich zudem, dass die Betroffenheit von den Auswirkungen höchst ungleich verteilt ist. Die Menschen, die am wenigsten zur Belastung der planetaren Grenzen beigetragen haben, spüren die Auswirkungen am deutlichsten und haben gleichzeitig die wenigsten Ressourcen um sich den veränderten Bedingungen anzupassen. Das wirft zusätzlich die Frage nach der Gerechtigkeit auf.
Bestimmung neuer sicherer und gerechter Grenzen
Unter dem Titel „sichere und gerechte Erdsystemgrenzen“ hat eine Gruppe von Wissenschaftlern der Earth Commission unter Federführung von Johan Rockström vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) in der Zeitschrift Nature eine Studie zu diesem Thema veröffentlicht.
Im Kern geht es bei dieser Studie darum, das Konzept der Planetaren Grenzen weiterzuentwickeln. Neben einer weiter entwickelten Begrifflichkeit – die Rede ist von Erdsystemgrenzen (Earth system boundaries – ESBs) werden diese entsprechend aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse neu bewertet und dabei Fragen der Gerechtigkeit mit einbezogen. Um sichere Erdsystemgrenzen festlegen zu können erfolgen quantitative Bewertungen für die Bereiche Klima, Biosphäre, Süßwasser, Nährstoffe und Luftverschmutzung auf globaler und subglobaler Ebene. Diese Bereiche umfassen somit die wichtigsten Komponenten des Erdsystems, wie Atmosphäre, Hydrosphäre, Geosphäre, Biosphäre und Kryosphäre sowie die mit ihnen verknüpften Prozesse – Kohlenstoff-, Wasser- und Nährstoffkreisläufe. Sie repräsentieren quasi die „globalen Gemeingüter“, die die lebenserhaltenden Systeme des Planeten und damit das menschliche Wohlergehen auf der Erde ermöglichen. Um den Aspekt der Gerechtigkeit mit in die Bewertung einzubeziehen, wird – als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung – die Minimierung der Gefährdung der Menschen durch Veränderungen des Erdsystems mit in Betracht gezogen. Damit soll „eine quantitative Grundlage für den Schutz der globalen Gemeinschaftsgüter für alle Menschen jetzt und in der Zukunft“ geschaffen werden. Die Entwicklung der sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen erfolgt in drei Schritten:
Erstens: Herausarbeiten sicherer Erdsystemgrenzen
Um Grenzen definieren zu können, muss zuerst ein „Referenzzustand“ festgelegt werden, von dem ausgehend Veränderungen bewertet werden können. Als Referenz für die sicheren Erdsystemgrenzen werden die biophysikalischen Bedingungen des Holozäns angenommen, wie sie in den vergangenen etwa 12.000 Jahren vorhanden waren und in deren Rahmen sich die Menschheit entwickelt hat. Dies wird in dem Artikel charakterisiert als „interglaziales, holozänähnliches Erdsystem, das von ausgleichenden Rückkopplungen dominiert wird, die Störungen bewältigen, abpuffern und dämpfen“. Ausgehend davon werden dann Grenzwerte auf der Grundlage aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse quantifiziert.
Zweitens: Herausarbeiten gerechter Erdsystemgrenzen
Um den Aspekt der Gerechtigkeit herauszuarbeiten, werden drei Kriterien definiert, die eine Beurteilung erlauben, ob die Einhaltung der sicheren Erdsystemgrenzen die Menschen vor erheblichen Schäden schützen könnte: Als Erstes zielt die „Gerechtigkeit zwischen den Arten und Stabilität des Erdsystems“ auf den Schutz von Menschen, anderen Arten und Ökosystemen ab; menschlicher Exzeptionalismus wird abgelehnt. Bei der „Generationenübergreifenden Gerechtigkeit“ geht es als Zweites um die Beziehungen und Verpflichtungen zwischen den Generationen, z. B. um das Erbe der Treibhausgasemissionen oder um die Zerstörung von Ökosystemen für die heutige Jugend und für künftige Menschen. Als Drittes umfasst die „Intragenerationelle Gerechtigkeit“ die Beziehungen zwischen gegenwärtigen Individuen, zwischen Staaten (international), zwischen Menschen verschiedener Staaten (global) und zwischen Gemeinschaftsmitgliedern oder Bürgern. Intragenerationelle Gerechtigkeit zu erreichen bedeutet, „den erheblichen Schaden zu minimieren, den ein Land einem anderen, eine Gemeinschaft einer anderen und ein Individuum einem anderen zufügt“.
Drittens: Integration der herausgearbeiteten sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen
Hier erfolgt die Kombination der Gerechtigkeitskriterien mit historischen Analysen, internationalen Gesundheitsstandards, Erdsystemmodellen und Expertenurteilen, um sichere und gerechte Erdsystemgrenzen zu quantifizieren, die die Exposition des Menschen gegenüber signifikantem Schaden durch Erdsystemveränderungen minimieren. Als solche erheblichen Schäden werden weit verbreitete, schwerwiegende, existenzielle oder irreversible negative Auswirkungen auf Länder, Gemeinschaften und Einzelpersonen aufgrund von Veränderungen des Erdsystems, wie z. B. Verlust von Leben, Lebensgrundlagen oder Einkommen, Vertreibung, Verlust von Nahrungsmitteln, Wasser oder Ernährungssicherheit sowie chronische Krankheiten, Verletzungen oder Unterernährung betrachtet.
Bewertung der gegenwärtigen Situation
Die hier beschriebenen gerechten Grenzen, sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Gerechtigkeit des Erdsystems, die auch den Zugang zu Ressourcen für alle sowie Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit ermöglichen muss. Eine Grundlage, die ein Minimum an Zugang zu Wasser, Nahrung, Energie und Infrastruktur für alle Menschen ermöglicht, könnte in Verbindung mit einer sicheren und gerechten Erdsystem-Obergrenze für den maximal zulässigen menschlichen Druck auf biophysikalische Bereiche, einen sicheren und gerechten „Korridor“ im Laufe der Zeit bilden.
Die Grafik visualisiert die sicheren Erdsystemgrenzen (dunkelrote Linie) und die gerechten (nicht signifikant schädlichen) Erdsystemgrenzen (blaue Linie). Fälle, in denen sichere und gerechte Grenzen übereinstimmen, sind durch eine grüne Linie markiert. Die Radialachsen sind auf sichere Erdsystemgrenzen normiert. Der aktuelle globale Zustand ist durch die Erdsymbole dargestellt. Ein Mindestzugang zu Wasser, Nahrung, Energie und Infrastruktur für alle Menschen (gepunktete grüne Linie) könnte die Grundlage für einen sicheren und gerechten „Korridor“ (grün ausgefüllte Fläche) bilden.
Die Ergebnisse zeigen, dass für die Bereiche Klima und atmosphärische Aerosolbelastung die sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen nicht zusammenfallen, wobei die gerechte Grenze unterhalb der sicheren Grenze liegt, also schärfer ist. Wie begründen sich diese Ergebnisse? – Für den Bereich des Klimas beispielsweise, gründen sie sich auf folgende Herangehensweise: Zunächst wurden sichere Erdsystemgrenzen für die Erwärmung ermittelt. Diese basieren auf der Minimierung der Wahrscheinlichkeit der Auslösung von Klimakipppunkten, der Aufrechterhaltung der Funktionen von Biosphäre und Kryosphäre und der Berücksichtigung der Klimavariabilität des Holozäns (<0,5-1,0 °C) und früherer Zwischeneiszeiten (<1,5-2 °C).
Die Autoren kommen danach zu dem Schluss, dass eine globale Erwärmung von mehr als 1,0 °C über dem vorindustriellen Niveau [das bereits überschritten wurde(!)] mit einer mäßigen Wahrscheinlichkeit Kippeffekte wie den Zusammenbruch des grönländischen Eisschilds oder ein lokales abruptes Auftauen des borealen Permafrosts auslösen könnte. Bei einer Erwärmung von mehr als 1,5 °C oder 2,0 °C steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kipppunkte ausgelöst werden, auf hoch bzw. sehr hoch.
Werden jedoch anschließend die enormen Schäden, die der Klimawandel verursacht, ebenfalls berücksichtigt, so ist es naheliegend, eine strengere gerechte Grenze anzusetzen. „Bei einer globalen Erwärmung von 1,0 °C wären Dutzende von Millionen Menschen extremen Feuchtkugeltemperaturen ausgesetzt, was Bedenken hinsichtlich der inter- und intragenerationellen Gerechtigkeit aufwirft. Bei einer Erwärmung um 1,5 °C könnten mehr als 200 Millionen Menschen, darunter unverhältnismäßig viele, die bereits gefährdet, arm und ausgegrenzt sind (intragenerationale Ungerechtigkeit), noch nie dagewesenen Jahresmitteltemperaturen ausgesetzt sein, und mehr als 500 Millionen Menschen könnten einem langfristigen Anstieg des Meeresspiegels ausgesetzt sein.“ Die Autoren kommen zu dem Schluss, „dass die Grenze der Gerechtigkeit bei oder unter 1,0 °C liegen sollte, wenn vermieden werden soll, dass Dutzende Millionen Menschen erheblichen Schäden ausgesetzt werden.“
Auch für die anderen Bereiche wurden in der Arbeit die sicheren und gerechten Grenzen herausgearbeitet. Als besonders bedroht erwiesen sich dabei die biophysikalischen Systeme Süßwasser und regionale Biosphären.
Als Fazit stellen die Autoren fest, dass
„sieben der acht global quantifizierten Erdsystemgrenzen und mindestens zwei lokale Erdsystemgrenzen in weiten Teilen der Welt überschritten wurden, wodurch die Lebensgrundlagen der heutigen und zukünftigen Generationen gefährdet sind. Um das menschliche Wohlergehen zu sichern, ist nichts Geringeres als ein gerechter globaler Wandel in allen Erdsystemgrenzen erforderlich. Diese Umgestaltung muss systemisch sein, d. h. die Bereiche Energie, Ernährung, Städtebau und andere Sektoren umfassen, die wirtschaftlichen, technologischen, politischen und anderen Triebkräfte des Wandels des Erdsystems berücksichtigen und den Zugang für die Armen durch eine Verringerung und Umverteilung der Ressourcennutzung sicherstellen.“
Es geht also letztlich um nicht weniger als eine grundlegende Transformation unserer gesamten Lebens- und Wirtschaftsweise.
Die wohl prominenteste Schlussfolgerung der Studie ist jedoch, dass das in Paris vereinbarte Klimaziel der Begrenzung der mittleren globalen Erderwärmung auf möglichst 1,5 Grad Celsius nicht ausreicht, um den Klimawandel mit seinen verheerenden Folgen zu stoppen. Die Autoren der Studie schlagen deshalb eine Begrenzung auf ein Grad Celsius vor. Sie weisen aber gleichzeitig nachdrücklich darauf hin, dass für ein sicheres und gerechtes Leben auf der Erde, die Gesamtheit der Erdsystemgrenzen eingehalten werden muss.